Der Arbeitskreis GU14+
Schon seit vielen Jahren treffen sich Vertreter der Jugendhilfeeinrichtungen, die geschlossene Unterbringung/freiheitsentziehende Maßnahmen (im folgenden GU/FEM) anwenden, zum informellen Erfahrungsaustausch. In dieser Zeit hat sich die Landschaft der Jugendhilfeeinrichtungen, die GU/FEM anbieten, enorm gewandelt. Manche Einrichtungen schieden im Laufe der Jahre aus diesem Kreis aus, neue Einrichtungen kamen hinzu. Von den Kritikern der GU/FEM misstrauisch beäugt, standen diese jährlichen Treffen bis vor einigen Jahren im Zeichen des Legitimitätsdrucks, unter dem die GU/FEM-Einrichtungen in der Fachöffentlichkeit standen. Das Image von „Schmuddelkindern“, der Vorwurf, zu den „Ewiggestrigen“ der Jugendhilfe zu gehören, der Verdacht, Kinderrechte zu verletzen, haftete den Einrichtungen an. Im Mittelpunkt der Treffen steht seit Jahren der Austausch über Konzepte und die Entwicklung von Qualitätsstandards im GU/FEM-Kontext. Aus dem informellen Treffen heraus haben sich im Oktober 2007 Vertreter von 14 Einrichtungen zum „Arbeitskreis GU14+“ zusammengeschlossen.
Während in der Vergangenheit in großen Teilen der sozialpädagogischen Fachwelt eine ablehnende Haltung gegenüber der GU/FEM und eine eher kritisch-ausgrenzende Haltung gegenüber Einrichtungen vorherrschte, die solche Maßnahmen angeboten haben, ist in den letzten Jahren eine differenzierte Debatte (vgl. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung 2002; DJI 2006) über Chancen und Risiken dieser Betreuungsform möglich geworden, an der sich zunehmend auch Vertreter der Einrichtungen beteiligen. Obgleich manchen Protagonisten der Debatte alles zu diesem Thema gesagt zu sein scheint, herrschen jedoch noch immer große Verständigungsschwierigkeiten und Missverständnisse vor. Trotz einschlägiger Veröffentlichungen (z. B. von WOLFFERSDORF et al, 1996; PANKOFER, 1997) scheint über den konkreten Alltag von Jugendlichen in GU/FEM noch immer wenig bekannt zu sein. Daher will sich der Arbeitskreis GU14+ im vorliegenden Text zu Wort melden und einen Beitrag zur Debatte liefern.
Die Projektionen
GU/FEM in der Jugendhilfe löst wie keine andere Maßnahme im Jugendhilfespektrum vielfältige und widersprüchliche Projektionen aus, die direkt Einfluss auf die Arbeit, die Inanspruchnahme des Angebots und die öffentliche Wahrnehmung der Arbeit haben.
GU/FEM zur Umsetzung von Recht und Ordnung:
„Endlich wird durchgegriffen!“
Im Zuge der Forderungen nach konsequenterem Vorgehen gegen straffällige Kinder und Jugendliche droht das Konzept der GU/FEM in der Jugendhilfe immer wieder missbraucht zu werden zur Rechtfertigung populistischer „law-and-order“-Haltungen. Der Gedanke des alten, bis Anfang der Neunziger Jahre gültigen Jugendfürsorgegesetzes, störende, auffällige, gegen Moral und die Erwartungen der Mehrheitsgesellschaft verstoßende Jugendliche „wegzusperren“, feiert dabei immer wieder fröhliche Urstände. Dabei besteht die Erwartung, dass „geschlossene Heime“ diese Jugendlichen „wegschließen“, dass sie als Strafinstanz, als Vorstufe zur Haft dienen und für Ruhe und Ordnung sorgen. Zentral ist hierbei die Vorstellung, dass Jugendliche tatsächlich „hinter Schloss und Riegel“ gehalten werden und von ihrem unerwünschten Handeln mit Gewalt abgehalten werden. Damit verbunden ist die Zuschreibung von Macht und unbeschränkter Durchsetzungskraft, ähnlich der einer Haftanstalt.
Diese Projektion, die nicht nur bei manchen Politikern, der Polizei und in den Medien zu beobachten ist, sondern auch immer wieder bei Fachkräften, bspw. in den Jugendämtern, führt regelmäßig zu Ent-Täuschungen und in der Folge zu einer Abwertung der Arbeit der GU/FEM-Einrichtungen, z.B. wenn Jugendliche aus einer Einrichtung weglaufen. Der Vorwurf lautet dann, dass die Einrichtungen nicht konsequent genug, zu „lasch“ agieren würden.
Die Täter-Projektion – GU als schädigender Zwangsakt:
„Nur Wegsperren ist doch keine Hilfe!“
Gleichzeitig löst diese übernommene Machtzuschreibung aber in Teilen der Fachöffentlichkeit auch skeptische Befürchtungen aus, dass mit dieser Macht missbräuchlich oder schädlich umgegangen werden könnte.
Das Misstrauen gegenüber den GU/FEM-Einrichtungen und ihrer Machtausübung führt zu einer anderen Wahrnehmungsverzerrung: GU/FEM sei nichts anderes als das Wegsperren von Kindern und Jugendlichen, sei ein gegen die Grundrechte der Kinder gerichteter Zwangsakt, der im Widerspruch stehe zu Erziehung und zum Auftrag der Jugendhilfe. Es wird befürchtet, dass GU/FEM Ausdruck eines Rückfalls in autoritäre und repressive Erziehungspraktiken ist.
Stellvertretend für diese Sichtweise ist die Äußerung eines Kollegen bei einer Podiumsdiskussion im Rahmen einer Fachtagung zu nennen: es sei doch eine Armutszeugnis für die Jugendhilfe, wenn einem nichts mehr einfalle „außer Jugendliche einzuschließen“. Hier wird GU/FEM dahingehend missverstanden, als ob die geschlossene Tür die einzige pädagogisch-therapeutische Intervention der GU/FEM-Einrichtungen sei und nicht eine Rahmenbedingung neben anderen.
Ausdruck dieser Haltung sind auch Äußerungen, in denen über zahlreiche Jugendliche berichtet wird, die durch GU/FEM geschädigt worden seien, ohne zu berücksichtigen, dass sich natürlich auch zahlreiche Jugendliche finden lassen, bei denen sich unpassende Hilfen oder Nichts-Tun langfristig schädlich auf die Entwicklung ausgewirkt haben.
Auch in den Medien lässt sich immer wieder diese reflexhaft-misstrauische Haltung gegenüber der GU/FEM erkennen. Kinder und Jugendliche werden einerseits als von „Kuschelpädagogen“ zu wenig streng behandelt beschrieben (s.o.), andererseits werden sie, ebenso verzerrt, gerne als Opfer der Institution beschrieben, z. B. wenn eine ärztlich verordnete psychopharmakologische Behandlung eines Jugendlichen kommentiert wird mit „… in der Einrichtung werden Jugendliche mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt …“.
Die Alles-Könner-Projektion – GU/FEM als „omnipotenter Ausputzer“ der Jugendhilfe:
„Wir haben alles versucht, jetzt hilft leider nur noch die Geschlossene!“
Eine weitere Projektion lässt sich wie folgt beschreiben: von der GU/FEM wird nach mehreren scheinbar gescheiterten Jugendhilfemaßnahmen nun all das erwartet, was bisher nicht geleistet werden konnte. GU/FEM erscheint hier, so kritisch oder negativ sie insgesamt gesehen wird, als die berühmte „ultima ratio“, als letzte aller Möglichkeiten, die jetzt endlich massiv den Erziehungs- und Schutzwillen der Erwachsenen durchzusetzen in der Lage ist. Typisch für diese Haltung sind z.B. Aufnahme-Anfragen von Jugendamts-Mitarbeitern aus Bundesländern, in denen GU/FEM eigentlich abgelehnt wird. Mit bedauerndem Ton wird geäußert, dass man eigentlich gegen GU/FEM sei, in diesem speziellen Fall jedoch nicht anders könne als zu dieser Maßnahme zu greifen. Hat auch die GU/FEM-Maßnahme nicht den gewünschten Erfolg, wird dies dann nicht selten als Beleg dafür angeführt, dass GU/FEM eben doch nichts „taugt“. Es ist so – um die Situation mit einem anderen psychosozialen Arbeitsfeld zu vergleichen – als ob man die Notwendigkeit und die Berechtigung einer stationären Behandlung für Drogenabhängige in Frage stellen würde, nur weil auch während und nach einer Behandlung Betroffene wieder rückfällig werden.
Gemeinsamkeiten der Haltungen und Konzepte
Trotz unterschiedlicher Konzepte in den GU/FEM-Einrichtungen lassen sich doch einige gemeinsame Überzeugungen, Erfahrungen und Praktiken benennen:
Ziel: Freiwilligkeit / Akzeptanz der Maßnahme
Alle Einrichtungen haben das Ziel, im Laufe der Betreuung beim jungen Menschen eine freiwillige Mitarbeit bzw. Akzeptanz des Aufenthalts in der Einrichtung zu erreichen. Eine über einen längeren Zeitraum durchgesetzte Zwangsbetreuung wird in keiner Einrichtung als sinnvoll angesehen. Daher arbeiten alle Einrichtungen bzgl. der tatsächlich durchgeführten Freiheitsentziehung mit Stufenplänen, nach denen die jungen Menschen Schritt für Schritt Eigenverantwortung, welche z.B. in Ausgängen und Familien-Heimfahrten geübt wird, erproben sollen. Dabei ist es das Ziel, dass die jungen Menschen lernen, bei allmählich geringer werdender Außenkontrolle schrittweise eine altersgerechte Eigensteuerung zu übernehmen.
Statt „ultima ratio“ – differenzierte Indikationsstellung
GU/FEM ist eine spezifische Form der Jugendhilfe, die, rechtzeitig durchgeführt, Entwicklungschancen erhält und krisenhafte Lebenssituationen stabilisieren kann. Die Beurteilung ausschließlich als „ultima ratio“ lehnen wir ab. Damit einher geht die Feststellung, dass diese Form nicht für alle Kinder und Jugendlichen, die sich in einer gefährdeten oder haltlosen Situation befinden, geeignet ist. Neben einer differenzierten Beurteilung der aktuellen Lebenssituation, der familiären Beziehungsmöglichkeiten, der individuellen Fähigkeiten, sowie der Diagnostik möglicher psychischer Störungen ist v.a. ein Verständnis für die Funktion des aktuellen Verhaltens zu entwickeln, um beurteilen zu können, ob eine mit Freiheitsentziehung verbundene Jugendhilfemaßnahme noch, schon oder überhaupt hilfreich sein kann.
Für diese differenzierte Indikationsstellung kann zwar das im Rahmen des Unterbringungsverfahrens erstellte psychiatrische Gutachten eine Grundlage sein, letztlich muss jedoch die Entscheidung von der Einrichtung gemeinsam mit dem Jugendamt und in Absprache mit den Personensorgeberechtigten getroffen werden. Dies gilt auch für den Fall, dass sich im Laufe der Maßnahme herausstellt, dass die GU/FEM nicht die „geeignete Hilfe“ ist. Hier behält sich die jeweilige Einrichtung vor, im Rahmen des Hilfeplan-Prozesses die Leistungserbringung trotz bestehenden familiengerichtlichen Beschlusses zu beenden.
Aktuelle Gefahrenabwehr oder pädagogische Intervention?
Die grundsätzliche, bisweilen sehr akademisch geführte Diskussion, ob Zwang grundsätzlich mit Erziehung oder Jugendhilfe vereinbar ist, führt aus unserer Sicht eher weg von den aktuellen Anforderungen an das Jugendhilfe- und Bildungssystem. Entscheidend ist vielmehr, ob klar umschriebene Zwangselemente in einer spezifischen Lebenssituation eines Kindes oder Jugendlichen, reflektiert angewendet, eine Hilfe darstellen können. Dabei lehnen wir eine Reduzierung der Anlässe für GU/FEM auf eine möglicherweise für einige Stunden bestehende „Leib- und Lebensgefahr“ ab. GU/FEM in der Jugendhilfe dient, anders als vielleicht in der Kinder- und Jugendpsychiatrie, eben nicht nur der momentanen Gefahrenabwehr. Eine vorübergehende Freiheitsentziehung ist in bestimmten Fällen eine notwendige Bedingung, um pädagogisch-therapeutisch einwirken und um Halt und Sicherheit vermitteln zu können.
Rechtliche und Qualitätsstandards werden eingehalten
Neben einer entsprechenden Betriebserlaubnis wird auf die Einhaltung der Verfahrensrichtlinien der §§ 70 ff FAMG geachtet. GU/FEM werden grundsätzlich nur dann umgesetzt, wenn ein gültiger familiengerichtlicher Beschluss gem. § 1631b BGB vorliegt. Wir orientieren uns in unserer Arbeit an der UNO-Kinderrechtskonvention.
Es gibt in der Jugendhilfe einen Graubereich, in dem ohne rechtliche Grundlage im Einzelfall und ohne gesonderte Betriebserlaubnis GU/FEM und Zwangsmaßnahmen stattfinden. Wir distanzieren uns von einer solchen Praxis. Wir fordern eine offene, enttabuisierende Debatte über diese alltägliche Realität in der Jugendhilfe.
Nur mit den von uns für sinnvoll gehaltenen, verbindlich definierten Standards ist eine wirkungsvolle Intervention für bestimmte Kinder und Jugendliche im GU/FEM-Rahmen möglich und vertretbar.
Literatur
Deutscher Bundestag (Hrsg.) 11. Kinder- und Jugendbericht. Berlin, 2002
Deutsches Jugendinstitut: Freiheitsentziehende Maßnahmen im Rahmen von Kinder- und Jugendhilfe, Psychiatrie und Justiz. Indikationen, Verfahren und Alternativen. 2006
http://www.dji.de/cgi-bin/projekte/output.php?projekt=282
Pankofer, Sabine: Freiheit hinter Mauern. Mädchen in geschlossenen Heimen. Weinheim/München: Juventa, 1997
Wolffersdorf, Christian v., Sprau-Kuhlen, Vera, Kersten, Joachim: Geschlossene Unterbringung in Heimen. Kapitulation der Jugendhilfe? Weinheim/München: Juventa, 2. Auflage 1996
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